Teil II

 

 

 

Kapitel 5: Der Divisionär

 

Barbara

Vor einigen Jahrhunderten konnten christliche Angreifer die Mauern einer heidnischen Stadt nicht überwinden. Erst die Anrufung der Heiligen Barbara durch die frommen Krieger erreichte, dass die Mauern zum Einsturz kamen und die Gottlosen niedergemetzelt werden konnten. Die frommen Artilleristen brachten aus Dankbarkeit vor der Heimfahrt in ihren Schiffen das Bildnis der heiligen Barbara an. Die Pulverkammer auf französischen Schiffen wird seither «La Sainte Barbe», auf deutschen Schiffen «Barbette», kleine Barbara, genannt. 

1. November 1992, 00.04 Uhr

Es war Allerheiligen, ein christlicher Feiertag, an welchem aller Heiligen gedacht wird. In den sechzehn Jahren nach der Verhaftung ‚seines‘ Brigadiers und seinem geheimen, aber denkwürdigen Einsatz für sein Land war er zum Brigadier, dann zum Divisionär, dem zweithöchsten Dienstgrad des Schweizer Militärs befördert worden. Er war 60 Jahre alt und stand kurz vor der Beförderung zum Korpskommandanten (Lieutenant General), dem höchsten Rang in Friedenszeiten. Heinrich von Boltigen befand sich an diesem Abend in seinem Arbeitszimmer und las einen Abschnitt aus dem Kirchenblatt:

«Das Fegefeuer ist nicht eine Art von jenseitigem Konzentrationslager (...) sondern der von innen her notwendige Prozess der Umwandlung des Menschen, in dem er (...) Gott -fähig und so fähig zur Einheit mit der ganzen Gemeinschaft der Heiligen wird.» 

Er beendete die Lektüre und dachte eine Weile über diese Gedanken von Papst Benedikt XVI, aus dem Jahre 1977 nach. Dann zog er sich in das Schlafzimmer zurück. Bevor er einschlief, dachte er an die geplante Wanderwoche im hügeligen Kanton Appenzell, und er freute sich. 

 

Der Traum

 

Er befand sich in einem grossen Raum im Innern eines Berges. Neben ihm stand eine grosse Kanone. Er schaute von einer Schießscharte hinaus. Unter ihm erstreckte sich eine grosse Ebene vom Berg in dessen Inneren er sich befand bis zum mächtigen Rhein, der die Schweiz von Italien, Österreich, vom Fürstentum Lichtenstein und weiter unten von Deutschland trennte. Es war ein Abend im Advent, und die Landschaft wurde von einem vollen Mond in ein wundersames Licht getaucht. Es begann zu schneien. 

Dieses beschauliche Bild war, so empfand er, eine wundervolle Einstimmung in das grosse Fest zur Geburt Jesu dem Erlöser. Er nahm seinen Feldstecher und blickte auf die zauberhafte Landschaft. Von irgendwo her vernahm er die Glocke einer Kapelle. Er fühlte sich leicht und glücklich, eine warme Welle von innerem Frieden, Entspannung und Glück durchströmte seine Brust, seinen Hals und seinen Kopf. Er schwenkte sein Glas und sah durch das Fenster in eine Küche hinein, in welcher er mit seiner Mutter Weihnachtsgebäck buk und mit ihr zusammen sang. Dann beobachtete er wieder die Landschaft, die Siedlungen und die Häuser. Er erblickte Bäume, weiss bedeckt mit Schnee und mit kleinen Lämpchen umwunden. Väter kamen von der Arbeit nach Hause und sie freuten sich auf den letzten Kilometern bereits auf den feinen Geruch nach Zimtsternen und die wohlige Wärme der eigenen Stube. So stellte er es sich jedenfalls vor. Eine riesige Sehnsucht breitete sich in seiner Brust aus und erfüllte sein Herz und seine Lungen, was ihn kurz und heftig atmen liess. Ein kaum erträglicher Schmerz erreichte seinen Magen und wand sich durch seine Därme, doch er wachte nicht auf. Und so entwickelte sich sein Traum über visuelle und akustische Sinneseindrücke, Gerüche und Empfindungen von Glück, Trauer und Sehnsucht zum intensivst je erlebten Grauen seines Lebens. 

Divisionär Heinrich von Boltigen stand hinter seiner Kanone. Sie war betriebsbereit und gegen Osten gerichtet. Gegen den Feind, der sich ihm näherte und drohte, seine Heimat, sein Vaterland zu zerstören. Mit allem was ihm lieb und teuer war. Burgen, Kasernen, Bauernhäuser, Schweizerinnen und Schweizer, ihr Wohlstand und vor allem ihre Werte: Ordnung, Ruhe und Freiheit – alles war akut gefährdet, eben jetzt, in diesem Moment, aber er war bereit, sie zu verteidigen, seine Frauen und Männer, seine Kinder und seine Werte. Hier und jetzt. Sein Auftrag stand in der Bundesverfassung. Im Namen Gottes, des Allmächtigen! Artikel 58: Die Armee verteidigt das Land und seine Bevölkerung. Er betätigte einen Hebel und ein hoch entwickelter Mechanismus, das Werk von zahllosen Männerarbeitsstunden, begann, das riesige Rohr mit der Artilleriegranate zu laden. Einem Geschoss, auf welchem ein schwarzes Flügelrad auf gelbem Hintergrund aufgemalt war: dem Zeichen für die alles zerstörende und todbringende Radioaktivität. 

Plötzlich sah er sie von seiner Festung aus, auf der anderen Seite der Ebene. Dank seinem präzisen Nachtsichtgerät erkannte er Hunderte von Fahrzeugen, Kanonen und Panzer, tausende Männer, Ostdeutsche, Polen, Tschechen, Ungaren, Bulgaren und vor allem Russen, viele, viele Russen. Alle trugen rote Bänder über die eine Schulter geschwungen, wie die «Feinde» in den Manövern der Infanterie. Sie alle schickten sich an, den Rhein zu überqueren. Er musste sie stoppen. Er stand alleine da, er und seine Kanone mit dem stahlkalten, schräg nach oben gerichteten Rohr, sorgfältig und liebevoll von ihm gereinigt und von blosser Hand mit zwei verschieden Geschützfetten eingerieben: innen mit dem schwarzen, zähen, aussen mit dem durchsichtigen, geschmeidigen Fett.

Er schaute durch sein Visier, berechnete Richtung, Entfernung und Seitenwind.

Sie konnten ihn und sein Geschütz nicht sehen, er stand in einer grossen, dezent beleuchteten Klosterzelle, welche sich neben Hunderten anderer Zellen, alle innerhalb des Säntis, eines 2500 Meter hohen Berges, rund 20 Kilometer westlich des Rheins befand. Die felsigen Räume waren Teil eines alten und grossen, wehrhaften Klosters zur heiligen Maria, doch nicht sie war es die nun hereintrat: Es war Barbara von Nikodemia. Die Schutzpatronin der Glöckner, der Schmiede, Maurer, Steinmetze, Feuerwehrleute und der Artillerie, seiner Artillerie. Er sah sie an und im Hintergrund hörte er den Sechseläutenmarsch, die inoffizielle Hymne der Stadt Zürich – zuerst leise, dann immer heftiger und lauter. ( ....... )

 

 

 

Kapitel 6

Die Enterung 

 

Hendrik Dorpeind wurde auf einer westfriesischen Insel in der Nordsee, als Sohn eines niederländischen Hoteliers und einer Schweizer Köchin geboren. Bis zu seinem zehnten Lebensjahr verbrachte er eine glückliche Kindheit im Gasthaus seiner Eltern, nur wenige Minuten zu Fuss vom Wattenmeer entfernt, wo er sich, so oft es ging, im Wasser aufhielt, auch im Winter. Seinen Lieblingsort jedoch besuchte er jeweils mit seinem kleinen Fahrrad auf der anderen Seite, am grossen Strand. Dort stand ein Häuschen auf Pfählen und in diesem Häuschen wohnte der lange Mann. 

         Viele Geschichten galten dem langen Mann, der hier alleine, bei Flut auf dem Meer, bei Ebbe über dem Sandstrand lebte. Er ernähre sich von Fischen, Krabben und den zahlreichen Vögeln, welche hier auf der Insel wohnten, hiess es. Doch nie sah ihn jemand jagen oder fischen. Nie begegnete man ihm im Dorf, in den Salzwiesen, Birkenwäldern oder auf dem Watt. Er war einfach da, das wusste man, mehr aber nicht. 

         «Hendrik», sagte ihm seine Mutter, «gehe nie in die Nähe dieses Strandes an der Nordseite, denn dort wohnt der lange Mann, der Kinder frisst!». Hendrik aber kannte keine Furcht, ausser der vor seiner Grosstante und so kam es, dass er schon bald die Bekanntschaft mit dem langen Mann machte. An einem sonnigen und windigen Morgen nahm er sein kleines Fahrrad, welches nur über einen Gang verfügte und fuhr damit in Richtung Norden. Auf der Insel gab es zahlreiche Wege, die nur von den ansässigen Gärtnern, Parkarbeitern und Naturschutzbeauftragten mit Fahrzeugen befahren werden durften. Hendrik fuhr durch poldergrüne Wiesen und steppenartige Dünenlandschaften und schliesslich an einer riesigen Düne vorbei zu einem Durchgang an den aussergewöhnlich breiten Strand. Er wollte heraus finden, wohin der lange Mann aufs WC ging, denn er hatte keine Rohre gesehen, die von der Pfahlbaute wegführten. Diese Neugier auf hoch- und tiefbauliche Fragestellungen würde dazu führen, dass er sich später beruflich damit befassen würde, aber das wusste er damals natürlich nicht. Und so schlich er sich heimlich der Düne entlang, von der Seite her, dem Häuschen entgegen. Hierbei wunderte er sich über den Zweck der 16 hohen Pfähle, welche senkrecht aus dem Sand heraus zu wachsen schienen. Diesmal sah er zwei Personen, die er jedoch links liegen liess.

         Plötzlich erhob sich, wie aus einem Erdloch entsprungen, eine riesige Gestalt neben dem Jungen. Hendrik erschrak, aber er zeigte keine Angst. Der Hühne schaute ihn lange an, dann fragte er: «Wilt u weten waar ik kak?»

         Hendrik nickte und dachte: der Mann kann Gedanken lesen, dann spazierten sie gemeinsam ans Meer hinunter und der lange Mann zeigte mit seinem Finger auf die Wellen. Hendrik verstand, ohne dass der lange Mann weitere Erklärungen bot. Von da an ging Hendrik jedes Mal, wenn er eine wichtige Frage hatte zur gleichen Stelle und wartete, bis der lange Mann sich zu ihm gesellte und ihm seine unausgesprochenen Fragen beantwortete. Einmal, Hendrik besuchte die zweite Klasse, bekam er mit, wie einige Kameraden sich über den langen Mann unterhielten und ihn hierbei den Totengräber nannten. Diese Bezeichnung hielt er für eine gemeine und zweifellos ungerechtfertigte Beleidigung seines allwissenden Freundes. Und so begab er sich, nachdem er seine Schulaufgaben erledigt und hastig etwas gegessen hatte, zur Pfahlbaute. Er wollte seinen Freund fragen, weshalb seine Kameraden ihm diesen Übernamen gegeben hatten. ( ... )