Teil I

 

 

 

Kapitel 1: Das Treffen

 

Schweizer Grenze, Montag, 16. August, 1976, 01.00 Uhr

Um ein Uhr früh drangen drei ausländische Militärmaschinen in den schweizerischen Luftraum ein. Es handelte sich um Transportflugzeuge des Typs Antonow Antäus An-22 Antei, Codename der Nato «Cock», den grössten Flugzeugen, die es auf der ganzen Welt gab. Auf Höhe des Bodensees wurden sie von einem Zweierverband des Überwachungsgeschwaders der Schweizer Luftwaffe empfangen. 

Talstation, Sonntag, 15. August, 1976, 09.30 Uhr

 

Sechzehn Stunden vorher war der Politiker als erster im Gebäude der Talstation eingetroffen. Der Angestellte am Fahrkartenschalter nahm ihn sofort wahr, da jener von kleiner Statur war und seine Sonnenbrille noch aufhatte, obwohl es hier drinnen dunkler war als draussen. Um die 30 schätzte der Mann am Schalter seinen Kunden, etwa einen Meter 60 Zentimeter gross, schlank, glattrasiert, blond, Föhnfrisur mit Seitenscheitel, hellbraune Hose mit Bügelfalte, ein kurzärmeliges weisses Polohemd, in seiner linken Hand eine beige Schiebermütze, auch Fassputzer genannt, dazu teure braune Halbschuhe. Was will denn der dort oben auf dem Berg mit diesen Schuhen? schüttelte der Angestellte innerlich den Kopf. Als der Fahrgast zu ihm an den Schalter trat und seine Mütze auf die Theke legte, sah der Schalterbeamte einen Ring aus Weissgold mit einem grossen Achat-Siegelstein. Um was für ein Siegel es sich handelte, konnte er nicht erkennen, denn der Achat war sehr dunkel. Der Fahrgast bat um eine Fahrkarte und während er seine Sonnenbrille abnahm um das Münz besser zu erkennen, sah der Beamte seine Augen: sie waren dunkel, fast schwarz, wie der Achat in seinem Ring. Er überreichte ihm eine Fahrkarte, Hin und zurück.

Der nächste Fahrgast, der in die schlecht beleuchtete Schalterhalle trat, überragte die Mitglieder einer Wandergruppe, welche sich dem aufgehängten Fahrplan gegenüber widmeten um mindestens einen Kopf. Er trug hellbraune wadenlange Wanderhosen, sogenannte Knickerbockerhosen, auch Gegelfänger genannt, rote Wollsocken, schwarz eingefettete genagelte Ordonnanzschuhe von BALLY, ein rotweiss kariertes Hemd sowie einen Militärrucksack und keine Kopfbedeckung. Kräftiger Körperbau, glattrasiert, dichte, braune Haare kurz und kantig geschnitten sowie ein massives Kinn, beobachtete der Schalterangestellte: eine steife Haltung und ein strenger, abschätzender Blick – Ein Militärgrind, schloss er in Gedanken seine Klassifizierung und überreichte seinem Gast eine Fahrkarte, diesmal nur für die einfache Fahrt. Tatsächlich hatte der Mann am Schalter gut kombiniert. Der 36-jährige Fahrgast hatte nach seinem Studium an der Eidgenössischen Technischen Hochschule ETH die militärische Laufbahn eingeschlagen, weil er Klarheit, Ordnung und Sicherheit suchte. Dank seiner Auffassungsgabe, die es ihm ermöglichte, mehrschichtige Strategien und komplexe taktische Manöver schnell zu erfassen und mit seinem präzisen Gedächtnis machte er sehr schnell Karriere. Er bekleidete den Rang eines Obersten. Es gab keinerlei Anzeichen, dass die beiden Kunden etwas mit einander zu tun hatten. Deshalb runzelte der Schalterbeamte erstaunt seine Stirne, als er sah, wie sich die beiden Herren anschickten, gemeinsam einen Sessellift zu ergattern. Die Wandergruppe hatte sich auf die Zweiersessel verteilt, als der letzte aus der Gruppe den Politiker einlud, mit ihm einen Sessel zu teilen. Dieser stellte seinen Kopf leicht schräg und sagte lächelnd, mit leiser Stimme und in höflichem Ton: «Das ist sehr nett von Ihnen, aber gehen Sie ruhig voraus» und stieg, zusammen mit dem gross gewachsenen Mann in den nächsten Sessel. Hinter ihnen stiegen zwei Ausländer in die nächste Gondel. Bedruckte T-Shirts, helle Baseballkappen und Jeans. Der jüngere trug Turnschuhe, der ältere schwarze Halbschuhe – amerikanische Touristen! meinte der Billetverkäufer. Doch diesmal lag er falsch.

Du Schleimer! dachte der grosse Mann, und auf seinem Gaumen realisierte er einen säuerlichen Geschmack. Er mochte sie nicht, diese Politiker, diese Windfahnen, die sich vor keinem Trug, keinem Lug zu scheuen schienen, solange sie nur wiedergewählt würden. Der Sessel setzte sich mit einem Ruck in Bewegung und sie schwebten langsam den Hang hinauf. Diese leise, belehrende Stimme, diese eindringliche Art zu sprechen, diese unterwürfige Kopfhaltung, dachte er weiter mit einem Seitenblick auf den Politiker. Sie hatten sich mit einem kaum wahrnehmbaren Kopfnicken begrüsst, doch niemandem wäre es in den Sinn gekommen, die beiden ungleichen Männer hätten etwas miteinander zu tun. Es war ein warmer Vormittag und im Verlauf des Tages würde die Temperatur bis auf 30 Grad steigen, sodass ein Ausflug in die Berge kühl und angenehm sein würde. Die Kühe grasten noch im Schatten. Es roch nach feuchtem Gras, frischen Kräutern und Kuhmist. Sie schwiegen und beobachteten, jeder auf seiner Seite die weidenden Kühe unter ihnen, welche sich von den leise rauschenden Sesseln nicht beeindrucken liessen. Der Politiker hiess Georg Stähli und stammte aus einfachen, bürgerlichen Verhältnissen. Bereits zu seiner Zeit am Gymnasium hatte er die Überzeugung geäussert, er werde später einmal in die Landesregierung, zum Bundesrat gewählt. Doch dies alleine war es nicht, was ihn immer wieder dazu angetrieben hatte, Höchstleistungen zu erbringen und Leute kennen zu lernen, welche ihm einmal in irgend einer Weise dienlich werden könnten. Nein, er wollte höher hinaus. Er wollte ein aussergewöhnlicher Politiker werden. Jemand der Geschichte schrieb. Georg Stähli hatte den abschätzigen Gesichtsausdruck des Militärs neben ihm wohl bemerkt. Du arroganter Wicht! dachte er grimmig, aufgewachsen in einer hoch wohlgeborenen Patrizierfamilie, musstest nichts machen für deine Karriere, hattest überall deine Steigbügelhalter, gell...! Und mit solchen Arschgeigen muss ich mich abgeben, um meine Ziele zu erreichen, dachte er weiter und vergass dabei, dass er für seine Wähler arbeitete und nicht für sich selbst. Tatsächlich war Oberst von Boltigen der Spross einer Familie, die vor rund achthundert Jahren zum Edelherrenstand gehörte, der jedoch nach einigen Jahrhunderten zum patrizischen Stadtadel herabstieg.

Die Fahrt verlief sehr ruhig, man hörte die Glocken der Kühe unter ihnen und von oben das leise und gleichmässige Reiben der Seilrollen. ( ... )