Mein Cousin aus Cornwall hatte einen Hund. Eines Tages erhielten beide Besuch von einer Bekannten und ihrem Kind. Während sich die Erwachsenen miteinander unterhielten, drängte der Junge den Vierbeiner spielerisch in den Flur, der zu einer geschlossenen Tür führte. Die Augen des Haustieres flackerten immer schneller hin und her, ein Ausdruck von Angst. Er zog sich weiter zurück, bis er am Ende des Flurs angelangt war. Hier befand er sich in einem Deadlock (Sackgasse). Plötzlich wechselte der Hund von einem nachgebenden Verhalten in den Angriffsmodus: Er biss den Jungen, sodass er an ihm vorbei fliehen konnte.
Der Hund im Flur

„Der grosse Mann schaute aus dem Fenster, sah aber nichts. Er hielt das abhörsichere Smartphone mit beiden Händen ans Ohr und schluckte.
„Und jetzt?“
Er rief die Frage und seine Stimme war höher als sonst. Die Antwort kam leicht verzögert, gefasst, mit heiserer Stimme:
„Wie soll ich … Wir haben eben zwei Raketen abgefangen, 40 Meilen von Boston! Vierzig Meilen?“
„Aber wann …?“, der Kanzler drehte den Kopf und fixierte eine der grossen analogen Uhren, die an der Wand hingen. „Sir! Es sind bereits zwei Minuten …“ Seine Stimme zitterte. Er sprach den
anderen mit Sir an, obwohl sie beide auf das Du gewechselt hatten, als sie sich kennenlernten. Aber der Kanzler wusste, dieses Gespräch würde zur späteren Analyse aufgenommen werden, und er
wollte nicht … Er räusperte sich und fragte, in beherrschtem Ton:
„Wann starten wir mit unserer Antwort? Bremen wurde getroffen. Bremen!“
„Ich weiss, ich sehe die Bilder von unseren Satelliten. Da ist nichts mehr. Nichts.“
„Eh maintenant …“ ertönte plötzlich eine dritte Stimme. Der Kanzler erschrak: „Wer …?“
„It’s le Président“, warf die heisere Stimme ein, „ich habe ihn dazu geschaltet.“ Bevor der Kanzler fluchen konnte, rief le Président laut: „Und Marseilles? Wir haben keine Bilder!“
„Kann ich nicht sagen“, log the US-President, denn er sah die ersten Aufnahmen auf den Bildschirmen. Zuerst musste er den Deutschen beruhigen. Doch der kam ihm zuvor:
„Ist noch jemand …?“
„Nein. Aber hier befinden sich der Verteidigungsminister, der Aussenminister, die Stabcheffin und die Führungskräfte aus Marine und Luftwaffe …“ Er drehte sich auf seinem Stuhl und schaute in die
Runde. Doch bevor er seine Auflistung weiterführen konnte, hörte er ein Räuspern:
„Oh my God!“ Der US-President wurde von einem der Anwesenden dazu gebracht, auf zwei Monitore zu schauen, die Bilder in verschiedener Auflösung zeigten. Die Stadt Marseille am Mittelmeer mit
900’000 Bewohnern war drei Minuten nach Bremen nuklear angegriffen und zerstört worden. Von einem U-Boot im Mittelmeer aus. Boston war als erstes Ziel geplant, thank God, dachte the President,
konnte dessen Untergang abgewendet werden. Vorerst.
Weshalb weint le Président, fragte er sich, dann erinnerte er sich: Dort wurde er geboren und dort leben Verwandte von ihm. Das hiess: lebten, denn jetzt waren alle tot oder im Begriff, ein
qualvolles Sterben zu erleiden.
Der Deutsche unterbrach seine Absenz:
„Wann startet Ihr?“ Er drängte auf eine rasche Antwort. Dann würde er sich umdrehen und den Anwesenden, die alle standen, und ihn anschauten, Befehle erteilen. Ohne jeden Kommentar und ohne
Bereitschaft, abzuwägen. Diskutiert worden war viel. Zuviel. Jetzt mussten Russen sterben. Ihre bedrohliche Politik musste beendet werden. Für viele Jahrzehnte. Seine Gedanken begannen sich zu
drehen. Immer schneller. Er drückte mit seinem rechten Zeigefinger auf die Schläfe. Bis es wehtat. In seiner linken, verschwitzten Hand hielt er sein Kryptohandy. Er schaute auf eine der Uhren:
sechs Minuten seit der Vernichtung von Bremen. Er weigerte sich auf die Monitore zu blicken. Er wollte sich auf die Antwort seines amerikanischen Verbündeten konzentrieren. Doch er schien sie
verpasst zu haben. Hatte er nicht richtig gehört?
„Was?“, bellte er, sodass alle Beamten und Militärs erschrocken ihre Augen auf ihn richteten. Der Kanzler stellte auf laut.
„No!“, wiederholte the US-President. Die Hand des Kanzlers zitterte, der Franzose räusperte sich laut. Der amerikanische President sagte nochmals: „No, wir starten keine unserer Raketen. Keine.
Wir haben uns eben dafür entschieden, uns nicht einzumischen.“
„Aber …“
„40 Meilen! Mit Boston hatten wir grosses Glück. Ihre nuklearen Hyperschallraketen hätten noch zwei Sekunden gebraucht. Wir haben hier zehn Mal so viele Einwohner wie Bremen. Stellen Sie sich das
vor!“
Niemand getraute sich, den Amerikaner bei seinem Vergleich zu unterbrechen. „No“, wiederholte Mister President: „Wir halten uns raus. Das ist nun eine Angelegenheit zwischen euch und Putin. Ich
will nicht, dass ein einziger amerikanischer Bürger sein Leben für eure miserablen Geschäfte lassen muss!“ Dem Deutschen stieg die Galle hoch, der Franzose fluchte: „Geschäfte?!“

„Ja, ich habe mit Putin einen Deal erreicht …“, an dieser Stelle wurde er durch einen groben Laut unterbrochen, dessen Bedeutung er nicht einordnen konnte. „Vor wenigen Minuten …, wir planen keine Vergeltung für ihre versuchte Massenvernichtung und sie verzichten ebenfalls auf weitere Kriegshandlungen.“

In diesem Moment wurde der Kanzler am Ellbogen gepackt. Er drehte sich um und erblickte zwei Worte auf einem Zettel, den ihm ein Mitarbeiter des Militärischen Abschirmdienstes (MAD)
entgegenhielt: „Nichtidentifizierte Person“. Der Offizier zeigte auf sein Kryptophone. Der Kanzler verstand sofort, und seine Gedanken rasten. Trotzdem versuchte er gleichzeitig, auf die
ungeheuerliche Nachricht des Amerikaners zu reagieren. Le Président war schneller:
„Aber bei uns: Das waren keine Provokationen. Mon Dieu!“ diesmal war es the President, der seufzte:
„Ihr habt eure Versprechen nicht eingehalten, alle Warnungen nicht ernst genommen, die Russen mit dem Einsatz unserer Tomahawk und eurer Taurus Marschflugkörper gedroht und damit provoziert.» Der
Amerikaner wechselte in einen dozierenden Ton: «Kein President will sich vor seinem Volk lächerlich machen, kein President will wie ein geringgeschätzter Hund in einen schmalen Flur ohne Ausgang
gedrängt werden.» Da meldete sich eine neue Stimme:
„Mr President, Sie haben es vorsichtig, aber treffend formuliert.“ Der Kanzler und le Président erschraken.
„Ich habe unseren russischen Kollegen dazu eingeladen, an unserem Gespräch teilzunehmen, schliesslich geht es hier um den gesamten Westen“, sagte the President. „Die Briten habe ich hierüber
informiert“. Damit liess er durchblicken, dass er präventiv mit dem Britischen Amtskollegen kommuniziert haben musste und ihn auf seiner Seite wusste. Der Russe schmunzelte und fuhr
fort:
„Ich stehe, meine Herren, an der Wand.“ The President fragte sich, ob sein russischer Kollege auf laut gestellt hatte. „Meine Mitarbeiter, meine Wähler, ja mein Volk wollen und brauchen einen
starken Führer. Wenn ich nicht auf Ihre Provokationen, sehr geehrte Herren, reagieren würde, würde ich gestürzt, umgebracht und um meinen Nachfolger gäbe es einen inneren Krieg.“

Niemand reagierte. Der Russe hatte nicht im Sinne, sich für seine eben begangenen Gräueltaten, die Auslöschung von Bremen und Marseille zu rechtfertigen. Er sagte: „Vis à vis sitzen mein
Verteidigungsminister und mein Generalstabchef, in der Mitte befindet sich unser Kafkas-System. Wir benötigen drei Sekunden und zwölf unserer 600 Hyperschallraketen befinden sich auf ihrem Flug
nach Berlin und Paris.“ Mit dem nächsten Satz wollte er Ihnen Zeit zum Nachdenken geben: „In wenigen Minuten werden Berlin und Paris zerstört und für mehrere Jahrhunderte unbewohnbar
sein.“
Hier wechselte der Russe von einem rauhen, drohenden Ton zu einem zivilisierten Gesprächston: „Ich habe eben mit Mr. President vereinbart, dass er sich nicht einmischen wird. Es geht folglich
nicht mehr um einen dritten Weltkrieg, sondern um den westeuropäischen Kontinent und einen Teil Russlands. Ihre Entscheidung bitte.“
Es herrschte fünf Sekunden Stille, eine lange Zeit, fand der Amerikaner. Der Kanzler sah seine Minister und Berater nicht an, er wollte die Entscheidung selbst fällen. Er sagte, im selben Plauderton: „Wir schlagen nicht zurück. Das Aug’ um Aug’ – Prinzip hat ausgedient.“ Er wartete, bis der Franzose ihn bestätigte. Dann legte er sein Handy auf die Fensterbank. Fünf Verbindungen wurden gleichzeitig beendet. Fünf?
Nachdem der nachdenklich und besorgt wirkende Mann von einem Nachrichtendienstoffizier der Schweizer Garde ein Zeichen erhalten hatte, legte er sein Kryptophone behutsam auf die Lehne seines
Sessels. Er erhob sich und ging zu seiner Kniebank. Er kniete nieder, faltete seine Hände, legte sie auf den Armpolster und sprach:
„Herr, ich danke dir. Unsere Christen werden keinen letzten Krieg beginnen.“ Dann stand er auf und ging duschen.“

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Adalbert, der Präsident unseres Golfclubs leitet als Betriebsökonom und Unternehmer eine mittelgrosse Firma im Bereich Lebensmittel.
Am Ende unseres letzten Treffens auf der Driving Range setzen wir uns (alle Mitglieder des Golfclubs) hin und öffnen eine Flasche Rosé. Adalbert eröffnet ein Gespräch über den Ukrainekrieg, indem
er wiederholt betont, wir müssten die Berichte und Kommentare aus den Medien überprüfen, bevor wir unsere Meinungen äusserten. Vernünftiges Handeln, und dies sei in diesem Krieg dringend
notwendig, sei nur dann sinnvoll, wenn wir uns auf logische Argumente stützen würden.
Ich wende ein, wir würden keine Fakten kennen, da die Wahrheit im Krieg als Erstes sterbe (Churchill, vermute ich). Und es sei nur dank unseres Vorstellungsvermögens möglich, die unvorhersehbaren
Verläufe eines Krieges zu erahnen, damit wir überhaupt an einen Frieden denken könnten.
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Hello Adalbert
Ich hoffe, du verstehst, was ich mit meinem Vergleich mit dem Hund illustrieren will: über den Krieg, vor dem einige von uns Angst haben, dürfen wir nicht alleine mit Hilfe von faktenbasierten
Informationen, strategischen Diskussionen und Tabellen sprechen. Um eine Ahnung (im Kopf und emotional) von einem höchst irrationalen, schrecklichen und verwerflichen Verbrechen, wie einem Krieg,
zu bekommen, müssen wir entweder dabei gewesen sein oder unser Vorstellungsvermögen nutzen.
Golfspieler Marcus