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Holy Jesus! (03)

Sie setzen sich nebeneinander auf die Korbsessel auf der Terrasse des Bootshauses. Sie genehmigen sich einen Schluck Kornschnaps und schauen auf den ruhigen See hinaus. Ohne ersichtlichen Anlass kommt Pirmin auf ihre damalige, im Kollegi Sarnen ausgetragene Auseinandersetzung zurück.

„Dui säg (sag’ mir)“, erinnert sich Pirmin, während er ein hohes Glas mit einer klaren Flüssigkeit, Eis und Zitronensaft entgegennimmt. Sein Gaumen, sein Zahnfleisch und der hintere Teil seiner Zunge ziehen sich zusammen, als er das Glas hebt. Er ahnt, dass sich im Glas dieser niederländische Schnaps, der ihn innerlich zum Zittern bringt, befinden muss. Er weiss, er muss durch diese Prozedur hindurch, falls er anschliessend von seinem Freund ein Glas Wein bekommen will. 
„Was meinst du?“, erinnert ihn Hendrik an dessen Gesprächsbeginn.
„Du hattest recht, damals. Es war tatsächlich eine Geissel aus Stricken, mit der Jesus den Tempel von Geldwechslern säuberte.“
„Holy Jesus!“, ruft Hendrik aus. Er nimmt einen Schluck seines Leibgetränks und schaut seinen Freund erstaunt an. Er schweigt, da er vermutet, dass sein Freund gleich weiter reden wird.
„Aber, es handelt sich um zwei völlig verschiedene Arten von Gewalt“, fährt Pirmin fort und täuscht einen Schluck vor. Er musste dabei vorsichtig sein. Sein Freund weiss, dass ihm vor dem Schnapps graut. Letztes Mal hatte er das Glas heimlich über das Holzgeländer gekippt. Dabei hatte er nicht daran gedacht, dass die Flüssigkeit mit einem lauten Geplätscher, das weit auf den See hinaus gehört werden konnte, auf die spiegelglatte Oberfläche traf. 

Hendrik überlegt, wieso sein Freund ausgerechnet heute, an diesem milden Herbstabend über Mord und Totschlag reden will. Ist das eine von Pirmins seltsamen Einleitungen, nach denen er ihn jeweils um Hilfe bei einer geheimen Aktion bitten will? Er nimmt noch einen Schluck und entscheidet sich, etwas aufmerksamer zuzuhören.

„Als Jesus die Händler, samt ihrer Rinder und Schafe aus dem Tempel hinaustrieb, war dies eine einmalige Gewalthandlung. Nachvollziehbar. Spontan, roh, emotional. Jesus war zornig. Er war nicht erfüllt von Hass, Rachegedanken oder Gier, verstehst du?“

„Dui säg!“, braucht Hendrik nun seinerseits diese Redewendung, die sie während ihrer gemeinsamen Zeit am Kollegi Sarnen aufgeschnappt und in ihren Wortschatz integriert hatten: „Liest du jetzt jeden Abend vor dem Einschlafen in der Bibel oder hast du heimlich ein Fernstudium in Theologie begonnen?“ Hendrik ist kritisch in Bezug auf alle Religionen eingestellt. Das weiss sein Freund. Aber Pirmin weiss auch, dass Hendrik über genügend Vorstellungsvermögen verfügt, sodass er die Entstehung der Welt mit etwas Göttlichem in Verbindung bringen kann. Wie einfallslos, arm und dumm, so erzählt er ihm einmal, müssen Menschen sein, welche die wunderbare Pracht alles Daseins als Ergebnis von zufälligen, alleine von den Naturwissenschaften zu erkundenden und zu erklärenden, Ereignissen erkennen können. 

Pirmin bemerkt, dass sein Feund in Gedanken versunken ist. Er lässt ihn dabei und schenkt der neben seinem Korbstuhl in einem Topf wachsenden Sukkulente etwas Flüssigkeit. Wie wird sie reagieren, bei so einem hochprozentigen Nass, fragt er sich und versucht, sein Amusement vor Hendrik zu verstecken. Dieser tut, als hätte er die Bewegung seines Freundes nicht bemerkt und als würde sich nicht ärgern. Er wiederholt seine Frage. Pirmin, der seine Antwort inzwischen vorbereitet hat, antwortet mit einem Lächeln im Gesicht:
„Nein, nein, ich bin weder frömmer noch belesener als du! Ich bin der Überzeugung, Bibelstellen sollten, wie auch Überlegungen zu Ethik und Moral nicht nur von kundigen Theologen und gebildeten Philosophen gelesen und besprochen werden.“ Dann wendet er seinen Kopf und blickt Hendrik direkt ins Gesicht:     „Hast du je eine dieser Abhandlungen zu Ende gelesen, die von Theologen oder Philosophen für Theologen oder Philosophen geschrieben werden?“
„So mit Hypothesen, Thesen, Gegenargumenten und Hunderten von Fussnoten und Literaturhinweisen?“, lacht Hendrik und schüttelt den Kopf. „Nein, schon lange nicht mehr. Aber ich verstehe, was du meinst. Und ich bin deiner Meinung. Die Bibel, ihre Interpretierung, überhaupt alles, was wichtig ist, sollte auch von einfachen Menschen wie du und ich diskutiert werden.“

Pirmin stellt fest, dass die Sonne am Untergehen ist und beide Gläser leer sind. Seine Laune verbessert sich. Er atmete tief ein und sagt:
„Dein neuer Genever war interessant, aber jetzt habe ich Lust auf einen Schluck Wein.“ Hendrik denkt, dass es sich nicht um einen neuen Wundertrunk gehandelt hat, sondern um den alten, den er immer ausschenkt, wenn er Besuch hat. Er erhebt sich, um Wein zu holen.

Nach einer Weile betritt er wieder die Terrasse. Er stellt einen Teller mit lauwarmen Knoblauchbrot auf das Tischchen zwischen den beiden Korbstühlen und füllt beide Gläser mit einem Zürcher Weisswein. Nachdem er die kupferne Schiffslaterne, die neben dem Eingang zum Esszimmer hängt, angezündet hat, setzt er sich und schickt sich an, seinem Freund zuzuprosten. 

Pirmin erwidert den Prost und kommt auf die Heilige Schrift zurück:
„Jesus war kein gewaltfreier Fantast, kein verblendeter Idealist, der herumspaziert und Maiglöckchen verteilt!“ Hendrik versucht sich daran zu erinnern, ob er jemals in der Bibel von Fantasten mit Maiglöckchen gelesen hat. Er sagt: „Aber ich habe nicht behauptet, …“ 

„Warte, jetzt kommts!“, unterbricht ihn Pirmin: „Die Bergpredigt ist etwas ganz anderes!“ Hendrik fällt auf, dass sein Freund nun schneller redet. Er unterbricht ihn nicht. Pirmin fährt fort:
„In der Bergpredigt geht es nämlich nicht primär darum, welche Meinung wir von Gewalt haben.“ Hier räuspert Hendrik sich. Pirmin bemerkt dies und hält inne. Er nimmt ein Stück Brot, gefüllt mit Butter, Salz und Knoblauch in den Mund. Sein Freund fragt:
„Ich hoffe, du bist wie ich gegen Gewalt, oder?“ Diese Frage hält Hendrik für berechtigt, sind beide, er von der Niederländischen und der Französischen Marine, Pirmin von den Schweizer Grenadieren und den Amerikanischen Seals zu sehr gefährlichen Kampfmaschinen ausgebildet worden.
„Natürlich bin ich gegen Gewalt“, antwortet Pirmin geduldig. „Aber es geht hier um etwas anderes. Jesus zeigt in der Bergpredigt, wie er auf Druck, willkürliche Stärke, grobe Härte, Zwang, Unterdrückung reagiert. Was er macht, wenn jemand Gewalt gegen ihn ausführt.“ Bevor Hendrik wieder dreinreden kann, fügt er an: «Er verzichtet auf Gegengewalt!» Es entsteht eine längere Pause, in der beide einem Fischreiher zusehen, der lautlos über den See segelt.
 Der nächste Satz Hendriks zeigt seinem Freund, dass er die Essenz aus seinen noch nicht ausgesprochenen Überlegungen erkannt hat. 

„Das heisst …“, formuliert Hendrik langsam seine Gedanken: „Jesus ist wohl weit und breit der einzige Christ, der eingesehen hat, dass wir nicht alle Kriege verbieten können, über einige Ausnahmen jedoch hinwegsehen.“ Hendrik, das ist Pirmin klar, nimmt hier Bezug auf die Charta der Vereinigten Nationen (UNO), welche am Anfang ihren Mitgliedstaaten ein allgemeines Gewaltverbot auferlegt. Im Artikel 51 steht die grosse Ausnahme geschrieben: Selbstverteidigung mit Waffen, dazu gehören auch vorbeugende Massnahmen.

Von da an hängen beide schweigend ihren Gedanken nach und leeren eine Flasche Rotwein aus dem Côtes du Rhône mit den Sorten Grenache, Mourvedre und Syrah. Sie geniessen die Abendstimmung auf dem See und auf dem dahinter emporragenden Bürgenstock. 


about contact
Hendrik und sein Freund Pirmin haben dasselbe Gymnasium besucht. Damals trug er lange, dunkle Locken, aufeinander abgestimmte Kleider sowie hohe Stiefel aus Wildleder. 
Vor seinem Abschluss als Bauingenieur absolvierte er mehrere Spezialtrainings als Kampftaucher bei der Niederländischen Königlichen Marine und bei den Franzosen.

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Hello Hendrik
Einige Stunden vor der Nachtwache erkundest du in: „Am Steingletscher“, Kapitel 7, das Innenleben der Kaverne am Steingletscher. Dabei fällt dir eine Schutztürvorrichtung auf, die anders aussieht. Sind dahinter tatsächlich Treiberraketen des Fliegerabwehrsystems Bloodhound gelagert, wie Adjutant Walker behauptet?

Vielleicht möchtest du einige Vergrösserungen der Fotos von einer Lenkwaffenstellung auf metallic Fotopapier erwerben? Siehe: „Galerie des Grauens“, https://www.fineswissphoto.com
Dein Autor Marcus



Bloodhound war ein Fliegerabwehrsystem mit radargesteuerten, über 7 Meter langen Boden-Luft-Raketen der British Aircraft Corporation, welche Flugobjekte, die in Höhen von bis zu 20'000 Metern flogen, herunterholen konnten. Unter grösster Geheimhaltung waren sechs dieser Lenkwaffenstellungen, über die ganze Schweiz verteilt, aufgebaut worden