Blog 01 Der Aufsatz
«Im selben Herbst, als der hohe Schweizer Offizier als grösster Landesverräter aller Zeiten, verhaftet, angeklagt und degradiert wurde, begann für die beiden
Jungen das letzte Schuljahr vor dem Abitur.
Gewalt in der Heiligen Schrift
Heute, am ersten Schultag nach den Sommerferien, erhielt Pirmin einen Aufsatz zurück, den er vor dem Urlaub geschrieben und abgegeben hatte. Der Deutsch-Lehrer war ein gewichtiger Mönch, mit
lichten, roten Haaren und einer schwarzen Soutane bekleidet. Seine Sandalen waren aus dunkelbraunem Rinderleder und stammten aus Italien. Sein Gang erinnerte an das Schwanken eines
Schlachtschiffs auf hoher See. Das konnte die Auswirkung des vergorenen Saftes sein, den er morgens nach dem öden Frühstück im Professorenhaus jeweils zu sich nahm und ihn zu einem
fröhlich-sarkastischen Pädagogen werden liess. Die Brillengläser waren, wie sonst nur bei Politikern üblich, die freundlich in die Kameras gucken wollten, gross und mit einem goldigen Metallrand
eingefasst.
Der Pater stellte sich neben seinen jungen Studenten, sah ihn ernst von oben an und sagte:
„Warst wieder einmal zu faul um nachzuschauen, was Gescheitere zu sagen haben, gell?“ Der Pater war bekannt dafür, dass er Aufsätze unter zwei Voraussetzungen gut benotete: Sie enthielten mehr
als vier Seiten und sie waren mit Bemerkungen berühmter Dichter und Denker versehen.
Als der Pater ihn zu provozieren versuchte, empfand er dessen Tadel nicht als Beleidigung sondern als Kompliment. Jedenfalls hatte er die Bestnote erhalten, wie er merkte, als er schnell auf die
letzte Seite schielte. Der Pater fuhr die Gymnasiasten an ihre Münder zu schliessen und aufmerksam zu sein. Dann bat er Pirmin den Text vorzulesen.
Pirmin stand auf und schlenderte lässig zur Wandtafel. Dort drehte er sich um und begann mit dem Titel: „Gewalt in der Heiligen Schrift!“. Dann las er einige Abschnitte aus der Bibel vor, welche
Gewalt enthielten. Dazu gehörte der Brudermord aus dem Buch Mose, die Vergewaltigung der Königstochter Tamar, die Rache Absoloms sowie zwei weitere Passagen aus dem Alten Testament, die niemand
kannte. Dann begann er seine Überlegungen dazu vorzustellen. Sie beinhalteten im Wesentlichen, dass die Gewalt wie auch der Krieg zur Menschheit gehöre, wie die Armut und der Wohlstand. Es könne
einzig erreicht werden, dass man die Anzahl und die Dauer der Kriege reduziere, sonst aber lerne, damit um zu gehen. In diesem Moment, er war noch nicht zu Ende mit seinen Ausführungen hielt er
inne. Aus seinen Augenwinkeln nahm er einige Hand- und Armbewegungen wahr:
„Bullshit“
Er schaute genau hin. Da, nochmals:
„Bullshit“
Sein Klassenkamerade Hendrik hatte ihn mit Zeichen aus der Gebärdensprache mitten im Vortrag unterbrochen.
„Bullshit“ gab ihm Hendrik nochmals zu verstehen, aber Pirmin blieb nichts anderes übrig, als mit seinem Aufsatz fort zu fahren. Am Ende seines Aufsatzes angelangt, setzte er ein gewinnendes
Lächeln auf und verbeugte sich vor seinen Kameradinnen und Kameraden. Er begab sich an seinen Platz, der sich in der hintersten Reihe befand.
„Möchte der gross gewachsene junge Streber aus dem Land der Rederijkerei etwas Gehaltvolles beitragen? Dann möge er es jetzt tun“, donnerte der Pater, der wieder vor der Wandtafel stand, mit
seiner mächtigen Bassstimme theatralisch. Er zeigte mit der Kreide, die er zwischen Daumen und Zeigefinger fest hielt auf Hendrik. Hendrik stand auf, denn er wollte Pirmin ärgern, da jener nicht
an ihm vorbei sehen konnte. Er wusste, dass hier in seiner Klasse ausser ihm und Pirmin niemand der Gebärdensprache mächtig war. Hendrik begann:
„Mein Klassenkamerade versucht Gewalt und Kriege zu legitimieren, indem er Passagen aus dem Alten Testament aneinander reiht und unreflektiert einem indifferenten Publikum zumutet!“ In diesem
Moment erschall lautes Protestieren der Kameraden und vor allem der Kameradinnen.
„Wir sind ja noch nicht dazu gekommen!“, warf Anna Wyl von Kägiswil, die Klassenbeste, ein, rollte ihre Augen und machte dazu eine affektierte Geste mit ihren Händen.
Die Augen des Paters leuchteten hinter seiner grossen Brille, seine Wangen wurden rot. So hatte er sie gerne, seine Schülerinnen und Schüler! Die Umsetzung der Dialektik, die Kunst des Disputs!
Herrlich!, dachte er. Egal was nun kam, einschlafen würden sie hierbei nicht und er bat Hendrik zu erläutern, was ihm denn so vorschwebe. Hendrik fuhr fort:
„Wir wissen hier doch alle, dass das Alte Testament nur so trieft von Mord und Totschlag“, sagte Hendrik und schielte kurz zum Pater, um festzustellen, ob er hier zu weit ginge, dann fuhr er mit
leichter Verärgerung in seiner Stimme fort:
„Aug’ um Auge, Zahn um Zahn, Vergeltung, Rache, Sodom und Gomorrha…!“ Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Wir müssen aber auch und vor allem Jesus und das Neue Testament anschauen …“,
„Ja, du meinst, die Episode, wo er einen Prügel nimmt und alle Händler zum Tempel hinaus schmeisst…?“, unterbrach ihn Pirmin mit einem Lächeln im Gesicht.
„Nein, ich meine die Bergpredigt. Wo Jesus eine Alternative zum ewigen Teufelskreis von gewalttätigem Gewinnen und ohnmächtigem Unterwerfen zeigt, einen dritten Weg, den Weg der
Gewaltlosigkeit!“, sagte Hendrik in ruhigerem Ton. Dann fügte er leise und gefasst hinzu:
„Und übrigens war es kein Prügel, den Jesus in den Händen hielt sondern eine Geissel!“ Beide lachten, ohne auf die leicht irritierten Gesichter ihres Paters und ihrer Kameradinnen und Kameraden
zu achten.
Der Pater war dankbar um die Stimmung, die nun folgte und nutzte den Rest der Lektion, um einen Monolog über die Kunst der Rede und Gegenrede bei den griechischen Philosophen zu führen. Dies tat
er spontan und aus aktuellem Anlass heraus, das hiess, ohne wie üblich seine vergilbten Notizen, die er seit seinem Studium mit sich herum trug, anzuschauen.
Weder Pirmin noch Hendrik ahnten, dass sie das Thema Gewalt ihr zukünftiges Leben begleiten und ihre Freundschaft festigen würde.“
Townend, M: Am Steingletscher, 2. Auflage, 2022, Kap. 4
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Pirmin und Hendrik haben beide später als Erwachsene mit Gewalt und Krieg zu tun – Pirmin als Mitarbeiter des Militärischen Nachrichtendienstes und Hendrik während seiner Ausbildung zum
Kampftaucher. Was würden sie wohl heute sagen?